17.09.2024

"Man muss weiter für Verständigungsgrundlagen sorgen"

Nach einem Sommer der Ungewissheit, in dem sich der französische Präsident nach den Parlamentswahlen mit der Ernennung einer neuen Regierung Zeit ließ, ist es dringend notwendig geworden, dass sich progressive Politiker aus Frankreich und Deutschland treffen, um über die gemeinsamen Herausforderungen in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit zu diskutieren. Was ändert sich jetzt, da der Konservative Michel Barnier in Paris zum Premierminister ernannt wurde? Was ändert sich jetzt, da die Position von Präsident Macron in Fragen der Rüstungskooperation durch die Wahlniederlage geschwächt wurde? Ziehen die Nachbarn immer noch am selben Strang? Das Format des "Cercle Stratégique" der FES Paris wird demnächst wieder Gastgeber für dieses Tête-à-Tête sein. Seit fast 25 Jahren lädt die FES Experten für Außen- und Verteidigungspolitik zu einem vertrauensvollen Dialog ein. Wir baten Jean-Pierre Maulny, stellvertretender Direktor des Instituts für internationale und strategische Beziehungen (IRIS), uns zu sagen, wo er die deutsch-französischen Aufgaben in einer instabileren Welt sieht.

Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, Israels Gaza-Krieg, den schwierigen deutsch-französischen Rüstungskooperationen und der ungewissen Rolle der USA in der NATO, stehen beide Länder vor sehr vielen Herausforderungen. Wie sehen Sie die Beziehung zwischen den beiden Nachbarn in Bezug auf die Zusammenarbeit für Frieden und Sicherheit in Europa?

Unsere strategischen Kulturen sind mit unserer Geschichte verbunden, und die Geschichte Deutschlands ist anders als die Geschichte Frankreichs. Es ist daher ziemlich normal, dass wir unterschiedlich denken. Um eine gemeinsame Position zu finden, bedarf es einfach des Dialogs, des Austauschs und des Verständnisses. Die Beziehung heute ist jedenfalls nicht so schlimm, wie manche sie darstellen wollen. Im Großen und Ganzen teilen unsere beiden Länder die gleiche Vision von der Sicherheit in Europa und der Herausforderung, die uns Russland in der Ukraine stellt. Und ja, es wurden einige Ungeschicklichkeiten begangen. Dies hängt zweifellos mit einem Mangel an Informationen und Verständnis für den anderen zusammen. Immerhin haben wir in Europa die gleichen Sicherheitsinteressen.

 

Welches sind die wichtigsten Meinungsverschiedenheiten, die beim nächsten Deutsch-Französischen Strategiegespräch angesprochen werden müssen?  

Die Situation im Nahen Osten und unsere Beziehung zu Israel. Wir müssen unbedingt in die Zukunft blicken und uns kollektiv fragen, was die Europäische Union für den Frieden im Nahen Osten tun kann. Die zweite Frage ist die Rolle, die die Europäer spielen müssen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Frankreich war immer der Ansicht, dass wir uns bei unserer Verteidigung in erster Linie auf uns selbst verlassen müssen und nicht auf andere. Die Vorstellung, dass man autonom sein muss, um glaubwürdig zu sein und um auf der internationalen Bühne, insbesondere in den transatlantischen Beziehungen, Einfluss zu haben, bleibt. Im Falle einer großen Krise wird Deutschland sich eher an die USA wenden. Was uns letztlich dazu bringen kann, gemeinsam voranzugehen, ist wenn die USA selbst den Europäern sagt, ihr müsst eure Sicherheit selbst in die Hand nehmen.

 

Um Europa strategisch autonom zu machen, brauchen wir aber eine effektivere und tiefere Zusammenarbeit, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland. Was muss sich ändern, damit Frankreich und Deutschland besser zusammenarbeiten?

Wir brauchen eine gemeinsame politische Vision, das ist äußerst wichtig. Dann brauchen wir Positionen, die bei allen Initiativen der Europäischen Union im Bereich Verteidigung und Sicherheit sowie im Bereich Rüstung übereinstimmen. Es bedarf eines tiefgreifenden Dialogs, um gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen und zu einer gemeinsamen Position zu gelangen. Hier sehe ich das größte Manko. Das war in der Zeit nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags im Jahr 1963 noch viel stärker präsent. In der Vergangenheit wurde die französische Jugend im Hinblick auf die Beziehungen zu Deutschland sensibilisiert. Das galt auch für Deutschland.  Das ist heute einfach nicht mehr der Fall. Man neigt ja oft dazu, zu sagen, dass der andere Schuld am Missverständnis ist. Aber wir müssen weiterhin die Grundlagen bilden, um einander zu verstehen. Wir brauchen einfach wieder mehr Kanäle für den deutsch-französischen Dialog durch die Zivilgesellschaft.

 

Haben denn Berlin oder Paris angesichts der zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Krisen noch die Fähigkeit, innovative Ideen für die Sicherheit Europas vorzuschlagen?

Unsere beiden Länder haben auf der Bühne der Europäischen Union ein großes Gewicht und es gibt hohe Erwartungen im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik. Ich habe die deutschen Ideen oft als sehr gut angesehen, weil sie die französischen Ideen nuancieren und umgekehrt. Die Summe aus beidem kann daher ein Pluspunkt sein. Die Politik darf die internationalen Fragen trotz der politischen Krisen im Inneren einfach nicht aus den Augen verlieren.

 

Besteht mit der Entscheidung von Präsident Macron, Michel Barnier zum Premierminister zu ernennen, die Möglichkeit, eine neue Vision Frankreichs für Europa zu entwickeln?

Michel Barnier verfügt auf internationaler Ebene über eine gewisse Sichtbarkeit, insbesondere aufgrund seiner Rolle in der Europäischen Kommission, die er als EU-Kommissar und später als Brexit-Verhandlungsführer innehatte. Allerdings haben wir schon mit der Ernennung ein neues Problem geschaffen. Das rührt daher, wie der französische Staatspräsident nach den vorgezogenen Parlamentswahlen agiert hat. Barnier kann ein interessanter Premierminister sein, da er dafür sorgen kann, dass es keine Mehrheit gegen ihn gibt, und somit Gesetze verabschiedet werden können. Insgesamt befürchte ich, dass der Präsident Barnier in eine unhaltbare Situation bringt, in der nur das Rassemblement National über Leben und Tod der Regierung entscheiden könnte.

 

Autor

Felix Kösterke ist freier Analyst für europäische Sicherheitsfragen in Berlin. Zuvor verantwortet er als Redakteur den Zeitenwende-Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er hat einen Masterabschluss Internationale Sicherheitstudien von Sciences Po, Paris.  

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