26.09.2024

"Fragmentierte Gesellschaften wählen besser mit Verhältniswahlrecht"

Prof. Dr. Frank Decker berät gemeinsam mit der FES Paris die parlamentarische Arbeitsgruppe zur Reform des Wahlrechts in Frankreich. Hier ist was er zum Thema zu sagen hat.

 

FES: Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wird über die Weiterentwicklung oder gar Reform des jeweiligen Wahlsystems diskutiert. In Deutschland das Verhältniswahlrecht, in Frankreich das Mehrheitswahlrecht – beide haben ihre Probleme. Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt ein für unsere fragmentierten Gesellschaften ideales Wahlsystem?

Decker: Für fragmentierte Gesellschaften ist die Verhältniswahl sicher besser geeignet als die Mehrheitswahl. Von daher ist es folgerichtig, wenn Länder, in denen es ein Mehrheitswahlsystem gibt, davon abrücken und dazu tendieren, Elemente eines Verhältniswahlsystems aufnehmen, um die zunehmende Fragmentierung besser abbilden zu können. Das ist der Vorteil eines Verhältniswahlsystems. Wenn man sich die Wahlsysteme in Europa anschaut, dann sind Verhältniswahlsysteme auch deutlich häufiger.

Frankreich und Großbritannien sind aber die klassischen Gegenbeispiele. In anderen Ländern werden die Wahlsysteme miteinander kombiniert. Welche Vorteile bietet das Verhältniswahlrecht im Hinblick auf Repräsentativität denn genau?

Die Grundidee im Verhältniswahlsystem ist, dass sich Stimmenanteile und Mandatsanteile der Parteien, die zu einer Wahl antreten, in etwa entsprechen. Das Parlament soll die tatsächlichen Kräfteverhältnisse, wie sie sich aus den Relationen der Stimmen ergeben, möglichst genau widerspiegeln. Es gibt nur eine Einschränkung, die man in diesem Zusammenhang als legitim betrachtet. Um eine übermäßige Zersplitterung des Parlamentes zu verhindern, kann eine Mindestschwelle der Repräsentation durch Sperrklauseln festgelegt werden. Diese hat man in den allermeisten Ländern im Rahmen der Verhältniswahl eingeführt, bei der Europawahl auch in Frankreich.

In Frankreich gibt es das Mehrheitswahlsystem bei den nationalen Parlamentswahlen und bei der Präsidentschaftswahl, aber bei den Europawahlen wählt Frankreich nach einem Verhältniswahlsystem.

Ja. Verbunden mit der Sperrklausel ist es das gleiche System, das man in der Bundesrepublik verwendet. Das Mehrheitswahlsystem funktioniert anders. Es basiert auf der Aufteilung in Wahlkreise, in denen dann jeweils nach Mehrheit gewählt wird. Das hat zur Folge, dass die unterliegenden Stimmen unter den Tisch fallen und nicht im Parlament repräsentiert werden. Dadurch können Mehrheitswahlsysteme die Mehrheitsverhältnisse stark verzerren. Unter Umständen reichen schon 30 oder 35 Prozent der Stimmen insgesamt aus, um große Sitzmehrheiten im Parlament zu gewinnen. Solche Mehrheiten sichern die Stabilität und erleichtern das Regieren. In Frankreich oder Großbritannien mussten bis vor Kurzem so gut wie nie Koalitionen gebildet werden – eine Partei konnte alleine regieren. In den Systemen mit Verhältniswahl umfasst die Koalitionsbildung dagegen heute immer öfter drei, manchmal – wie in den Niederlanden – sogar vier oder fünf Parteien, weil sich die Parteienlandschaft pluralisiert. Das macht die Regierungsbildung und das Regieren schwierig.

Deutschland hat ja bereits das Verhältniswahlrecht plus Sperrklausel. Warum diskutiert dann auch Deutschland über eine Wahlrechtsreform? Wo drückt denn da der Schuh?

Die Parteiensysteme haben sich in unseren beiden Ländern stark verändert. Ähnlich wie in Frankreich, hatten wir in Deutschland bis Anfang der 1980er Jahre eine bipolare Struktur mit zwei sehr starken Volksparteien, den Christdemokraten und den Sozialdemokraten und der kleineren liberalen Partei, der FDP. Daraus ist seither ein Sechsparteiensystem geworden. Das wirkt sich auch auf die Funktionsweise des Wahlsystems aus. Nehmen wir etwa die Sperrklausel. Bei der jüngsten Landtagswahl in Brandenburg sind gleich mehrere etablierte Parteien knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, die für die Koalitions- und Regierungsbildung hätten nützlich sein können. Die Sperrklausel führt auch dazu, dass ein zunehmender Anteil von Stimmen im Parlament nicht vertreten ist – Brandenburg liegt er bei 14 Prozent. Das wiederum hat zur Folge, dass die AfD, obwohl sie „nur“ 29 Prozent der Stimmen bekommen hat, im Parlament über ein Drittel der Sitze verfügt. Damit kann sie Verfassungsänderungen oder die Wahl von Verfassungsrichtern blockieren, was vielen jetzt Sorgen bereitet.

Gucken wir noch mal nach Frankreich. Dort hat bei den Parlamentswahlen das Mehrheitswahlrecht quasi verhindert, dass der rechtsextreme Rassemblement National so stark repräsentiert ist, wie Wählende für ihn gestimmt haben. Ganz naiv gefragt, kann man denn Französinnen und Franzosen nun allen Ernstes raten, zum Verhältniswahlrecht überzugehen?

Wir sehen ja längst, wie es die Regierungsbildung erschwert, wenn Parteien wie die AfD in Deutschland oder der RN in Frankreich Größenordnungen von 25 bis 30 Prozent erreichen. Parteien, die so stark sind, wird man auf Dauer nicht von der Macht fernhalten können. Da haben wir in Frankreich und in Deutschland eine ähnliche Diskussion. In Frankreich ist der RN auch unter den Bedingungen des Mehrheitswahlsystems inzwischen im Parlament so stark vertreten, dass der Übergang zur Verhältniswahl im Grunde konsequent wäre. Durch die Europawahlen kennen die Franzosen dieses System ja bereits – das würde die Umstellung erleichtern. Was ich vor allem als Problem sehe, ist, dass man in Frankreich keine Erfahrungen mit Koalitionen hat. Das wird man jetzt lernen müssen.


Unserer Demokratien sind ja vielleicht auch in der Krise, weil es der Politik oft an Bürgernähe mangelt. Wie wirkt sich denn das Verhältniswahlrecht auf die Bindung zwischen Wählenden und ihren Volksvertretenden aus?

Es kommt darauf an, in welcher Form man das Verhältniswahlsystem einführt. Bei den Europawahlen gibt es in Frankreich – in Deutschland ist es genauso – eine reine Listenwahl. Das ist natürlich sehr zentralistisch und somit wenig bürgernah – die Parteien, die die landesweiten Listen aufstellen, haben das Sagen. Bei der Bundestagswahl gibt es in Deutschland ein kombiniertes System von Listen- und Personenwahl. Die Hälfte der Abgeordneten wird in 299 Wahlkreisen mit der Erststimme direkt gewählt, die andere Hälfte zieht über die Parteilisten ein. Für die Sitzverteilung ist aber allein die als Zweitstimme bezeichnete Listenstimme entscheidend, insofern bleibt es ein reines Verhältniswahlsystem. Das deutsche Modell könnte für Frankreich interessant sein, weil man ja hier mit der Wahl in etwa gleich großen Einpersonenwahlkreisen gut vertraut ist. Es ist übrigens ziemlich einmalig in Europa, denn die meisten Länder mit Verhältniswahlsystem haben – unterschiedlich große – Mehrpersonenwahlkreise.

In Deutschland gewinnt im Wahlkreis nur ein Kandidat, mit relativer Mehrheit. In Frankreich gilt die absolute Mehrheit, allerdings auch mit einer gewissen Einschränkung. Hier können im zweiten Wahlgang mehr als zwei Kandidaten antreten. Ist das nicht demokratischer?

Decker: Im deutschen Modell führt das System mit sechs oder noch mehr Parteien dazu, dass möglichweise schon 20 Prozent genügen, damit ein Kandidat oder eine Kandidatin den Wahlkreis gewinnen. 80 Prozent der Wählenden hätten die entsprechende Person also nicht gewählt. Da ist das französische System demokratischer. So wie Frankreich bei der Kombination von Wahlkreis- und Listenwahl auf Deutschland schauen könnte, könnte Deutschland bei der Ausgestaltung der Wahlkreisstimme also umgekehrt auf Frankreich schauen. Wolfgang Schäuble hatte zum Beispiel noch kurz vor seinem Tod vorgeschlagen, dass man anstelle der relativen Mehrheit die absolute Mehrheit verlangt, also eine Stichwahl einführt.  

Wie einfach ist es, ein Wahlsystem zu ändern?

Decker: Bei Wahlsystemreformen besteht das grundlegende Problem, dass die Parteien fast ausschließlich auf ihre eigenen Interessen blicken. Nutzt mir die Änderung oder schadet sie? Insoweit kommt es für ihre Durchsetzung auf die aktuellen Kräfteverhältnisse an. In Frankreich ist der RN zum Beispiel für das Verhältniswahlsystem, weil es ihn stärken würde und nicht nur, weil es tatsächlich zu einer faireren Repräsentation führt. In Deutschland wie in Frankreich ist das Wahlrecht nicht in der Verfassung geregelt, so dass es von der Regierung mit einfacher Mehrheit geändert werden kann. Die Gefahr, dass man die Opposition dabei gezielt benachteiligt, ist dabei immer gegeben. So hatte Mitterrand zum Beispiel 1986 die Umstellung auf die Verhältniswahl durchgesetzt, um die Rechte zu spalten, was später wieder rückgängig gemacht wurde. Auch in Deutschland wurde die jüngste Wahlrechtsreform gegen den Willen der Opposition beschlossen, die deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hat.

Hätte für Frankreich die Einführung des Verhältniswahlrechts auch noch andere absehbare Folgen? 

Konsequenzen entstünden natürlich für den französischen Semipräsidentialismus. der ja ziemlich einmalig ist in Europa. Es würde sich die Frage stellen, ob das jetzige System, in dem der Präsident der eigentliche Chef der Regierung ist, noch haltbar wäre. Bei einem Verhältniswahlrecht müsste die Regierungsmacht im Grunde auf den Premierminister übergehen, der der Regierungskoalition vorsteht. Dazu bräuchte man noch nicht einmal die Verfassung zu ändern. Generell lassen sich Wahlsysteme nur schwer reformieren, weil sie eingeübt sind. Die Bürger haben sich an sie gewöhnt, da müsste man bei einer Umstellung also viel Überzeugungsarbeit leisten

Für einen Systemwechsel findet man in der Geschichte der Demokratie auch kaum Beispiele. Oder gibt es irgendwo ein Best Practice Beispiel, wo ein Land von Mehrheitswahlsystem umgestellt hat zu Verhältniswahlrecht, was gut geklappt hat?

Ja, in Neuseeland. Da hat man tatsächlich auch Elemente des deutschen Wahlsystems übernommen. In Großbritannien ist es versucht worden, das war eine Bedingung der Liberaldemokraten in der Koalition mit den Konservativen. Die Liberaldemokraten haben sich dabei aber austricksen lassen. Indem die Konservativen darauf bestanden, über das neue Wahlrecht eine Volksabstimmung durchzuführen, konnten sie fast sicher davon ausgehen, dass die Briten es ablehnen würden – das alte System war ihnen nun einmal bestens vertraut. So ist es dann auch gekommen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Decker. 
 

Experte

Prof. Dr. Frank Decker ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.

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